Rechtschreibschwäche

Hirn-Scan zeigt Legasthenie schon vor Schulbeginn

Fanny Jiménez

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Wenn man die Legasthenie schon bei Vorschülern feststellen könnte, würde vielen Betroffenen durch frühe Förderung Leid erspart bleiben. Bisher ging das nicht. Doch nun haben Forscher eine Idee.

Am Anfang, wenn die Kinder der ersten Klasse aufgeregt auf ihren Stühlen hin und her rutschen und das erste Mal krakelige große Buchstaben malen, da fällt noch nichts auf. Doch je länger das Schuljahr dauert und je mehr aus den Buchstaben Wörter und einfache Sätze werden, desto sicherer ist sich ein Lehrer meist: Da ist wieder jemand dabei, der mit dem Lesen und Schreiben sehr zu kämpfen hat.

Die Legasthenie ist die häufigste Lernstörung überhaupt. Im Schnitt ist es ein Schüler pro Klasse, der große Probleme mit der Rechtschreibung hat und damit, Wörter richtig zu lesen und zu verstehen, was sie bedeuten – trotz durchschnittlicher Intelligenz.

Wenn das Kind mit der Lese-Rechtschreib-Schwäche dem Lehrer auffällt, ist es meist schon zu spät. Eine offizielle Diagnose haben viele dieser Kinder erst am Ende der zweiten Klasse. Dann muss das Kind langsam und mit viel Förderung nachholen, was alle anderen viel schneller lernen.

Oft führt die Legasthenie dazu, dass in allen Schulfächern die Leistungen von Anfang an eher schlecht sind und der Abstand zu den anderen Schülern mit der Zeit immer größer wird. Schließlich ist Lesen und Schreiben die Grundlage aller Schulfächer.

Bisher gibt es keine Früherkennung für Legasthenie

Wer das nicht in dem Tempo lernt, das der Schulplan vorsieht, versteht Textaufgaben und Übungsblätter nicht, ist viel zu langsam bei Klassenarbeiten, kann Liedtexte nicht mitverfolgen, Gedichte nur schwer auswendig lernen und nie selbstbewusst einen Text schreiben. Legastheniker bleiben deshalb oft lebenslang unter ihren Möglichkeiten und erreichen niedrigere Bildungsabschlüsse als andere.

Das alles ließe sich verhindern, wenn es eine Möglichkeit gäbe, Legasthenie schon vor dem Schulbeginn festzustellen. Doch bisher gelang das nicht: Eine Lese-Rechtschreib-Schwäche kann erst festgestellt werden, wenn ein Kind schon lesen und schreiben gelernt hat – und es also schon zu spät ist.

Zeugnisse dürfen Verweis auf Legasthenie enthalten

Michael Skeide wollte das ändern. "Im Vorschulalter ist das Gehirn noch sehr veränderbar", sagt der Psychologe vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. In diesem Alter könne man mit der richtigen Förderung Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwäche das gesamte spätere Leben sehr viel leichter machen.

Lese-Rechtschreib-Schwäche liegt in den Genen

Skeide hat deshalb ein neues Screeningverfahren entwickelt, das er im Fachjournal "Brain" vorstellt: Mithilfe eines Hirn-Scans im Vorschulalter konnte er mit einer Trefferquote von 75 Prozent vorhersagen, ob ein Kind am Ende der ersten Klasse an einer Lese-Rechtschreib-Schwäche leiden würde.

Sein Forscherteam nutzte für das Screening die Ergebnisse früherer Studien. Diese hatten nahegelegt, dass bei der Entstehung der Legasthenie die Vererbung eine große Rolle spielt. Die Lese-Rechtschreib-Schwäche liegt also zu einem großen Teil schon in den Genen des später Betroffenen.

Skeide untersuchte nun bei mehr als 140 Kindern der Altersgruppe Klasse vier bis acht sowie vom Kindergarten bis Klasse eins die Ausprägung dieser Gene in bestimmten Hirnregionen, die für das Lesen- und Schreibenlernen wichtig sind. Er nutzte dafür Aufnahmen eines Magnetresonanztomografen (MRT).

Schon im Kindergarten ist die Gehirnstruktur eine andere

Die Scans zeigten, dass Kinder mit einer bestimmten Variante des Gens NRSN1, das für die Entwicklung der Nervenzellen wichtig ist, Unterschiede in der Hirnregion aufwiesen, die von Experten Visual Word Form Area genannt wird: Sie ist dafür zuständig, Buchstaben und Wörter zu erkennen.

Schon im Kindergartenalter unterschieden sich die Areale der Kinder, die eine Legasthenie entwickeln würden, von denen jener Kleinen, denen das Lesen und Schreiben später keine Probleme machen sollte. Der MRT-Scan ist zwar teuer, aber dennoch bisher die einzige Möglichkeit, so früh eine so sichere Diagnose stellen zu können.

"Je früher eine Legasthenie erkannt wird und die betroffenen Kinder eine entsprechende Förderung erhalten, desto größer ist die Chance, dass die Ausprägung der Störung deutlich abgeschwächt werden kann", sagt Skeide.

Die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung (DGKN) zeichnet den Psychologen für seine Studie mit dem Alois-Kornmüller-Preis aus, einem Preis für eine herausragende Arbeit auf dem Gebiet der experimentellen oder klinischen Neurophysiologie.